Varanasi 31.12.2013
Ich war eine kurze intensive Woche lang in Varanasi, meiner indischen Homebase. Varanasi wird von Mal zu Mal schöner. Aber diese Schönheit eröffnet sich nicht nur dem äußeren Auge. In der Tat ist Varanasi für den „Westler“ eine sehr schwierig einzuordnende Stadt, eine große Herausforderung, und auch ich habe immer das gespaltene Gefühl von einer fürchterlichen und wunderschönen Hassliebe dieser alten und großartigen Stadt gegenüber.
Städte wie Delhi, Kalkutta oder Bombay sind für uns einfacher zu verstehen, da sie aber auch alle von nicht Indern gebaut wurden.
Varanasi ist zutiefst indisch und für uns schwer zu begreifen. Wir sehen die Stadt auf bemerkenswerte Weise anders, als die Hindus sie sehen. Wir nehmen die Räucherstäbchen war, den Geruch der Verbrennungen, süßer Chai mischt sich mit klebrigen Früchten und frittierten würzigen Gerichten an der Straßenecke. Waschpulver und Kampher-Geruch der Opferkerzen an den Treppen zum Ganges. Abfall und Plastik hängt träge auf den alten Pflastersteinen um irgendwann aufgesammelt oder verbrannt zu werden. All das sehen die Hindus auch.
Wir hören die kleinen Glöckchen der Priester und die großen Tempelglocken. Immer wieder dringen Gebete und Mantras an unser Ohr, „Hare hare mahadev“. Auch wenn wir ein bisschen Yogaerfahrung mitbringen, oder ein Buch gelesen haben, in einem Ashram gewesen sind, wird uns das alles fremd und kontrovers vorkommen.
Varanasi ist so alt wie Athen, Peking, Rom, Damaskus. Allerdings hat sich seit fünftausend Jahren hier nicht grundlegend viel verändert. Man stelle sich noch heute existierende griechische Rituale in Athen vor, und dann kann man vielleicht verstehen, was das Besondere an Varanasi ist. Seit ihrer Entstehung vor ca. 5000 Jahren gibt es jetzt zwar Elektrizität mit gelegentlichen powercuts, schaut man in die Häuser, sieht man Kühlschränke und Fernseher, Autos und Motorräder verstopfen die einst so ruhige Stadt, Plastikverpackungen ersetzen Bananenblätter, und Tee wird auch nur noch selten in Tontässchen ausgeschenkt. Trotzdem ist diese Stadt noch gelebte hinduistische Tradition.
In dem alten Teil der Stadt zur Gangesseite ist die Zeit stehen geblieben. Die Häuser verfallen regelmäßig zur Regenzeit und werden danach zur Winterzeit wieder repariert und neu gestrichen. Das Klima in Indien unterstreicht den allgegenwärtigen Gedanken an die Vergänglichkeit. Leben und Sterben bilden eine Einheit. Verfall gehört zum Leben, und unsere eigene Vergänglichkeit wird im Angesicht des sichtbar Vergänglichen um uns herum mit Gelassenheit und einem Lächeln angenommen. Nichts Materielles hat Bestand. Dafür werden die Rituale um so wichtiger und konzentrierter begriffen. In Varanasi ist es immer noch wichtiger, seine Puja zu machen, statt pünktlich zur Arbeit zu kommen. Die Rituale sind die Brücke zur anderen Welt oder zur Unsterblichkeit.
Wenn uns auch alles chaotisch und ohne Struktur erscheinen wird, ist Varanasi voll von Regeln. Kontroverser Weise auch Regeln zur Erhaltung der Materie. Zum Beispiel wird enormen Wert auf körperliche Hygiene gelegt. Geduscht wird zweimal am Tag, vor jedem Tempelbesuch nochmal extra. Nach der Toilette spült man mit Wasser seinen Po, gegessen oder Nahrung angefasst wird nur mit der rechten Hand, an Wasserflaschen wird nicht mit dem Mund genuckelt, man lässt das Wasser in den geöffneten Mund fließen. Beim Kochen wird die Nahrung nicht zwischendrin probiert. Die Häuser innen und die Kleidung sind blitzblank sauber. Und das ist ein Wunder, da in Varanasi alle Macht der Staub hat. Täglich muss gekehrt und gewischt werden und fast keine Familie besitzt eine Waschmaschine oder einen Staubsauger.
Das Stadtbild ist männlich geprägt. Das Rollenbild ist traditionell getrennt. Meistens geht der Mann auswärts arbeiten und die Frau versorgt Haus und Kinder. Frauen verbringen viel Zeit in ihrem Haus. Es ist aber nicht so, wie wir uns das vorstellen, dass Frauen ins Haus gesperrt werden. Die Familien sind groß und im Haus geht es lebhaft zu. Ehen werden immer noch von den Eltern arrangiert und die jungen Frauen, die vorher kaum Kontakt mit Männern hatten, verlassen sich darauf, dass ihre Eltern am besten wissen was für sie passt. Den jungen Männern geht es ebenso und bei der Hochzeit sehen sie sich manchmal zum ersten Mal und stehen sich ratlos gegenüber. Schlussendlich entscheidet der Astrologe ob die beiden Partner den Ehebund schließen können. Die Frau ist Chefin im Haus und der Mann bringt das Geld nach Hause. Männer und Frauen haben im traditionellen Indien nicht so ein enges Knuddelverhältnis wie wir im Westen. Das Ziel der Ehe ist eine friedliche Familie zu gründen. Das ist auch eine spirituelle Entscheidung füreinander und auch hier ist wieder deutlich zu sehen, wie wenig unser Konzept vom individueller Selbstverwirklichung für die Inder von Bedeutung ist. Karma bedeutet, seinen Partner anzunehmen wie sein eigenes Kind das man sich auch nicht aussuchen geht, und lieben kann man jeden. Auf unterschiedliche Art sicherlich. Daher sieht man traditionell wenig verliebte Pärchen, dafür aber oft ein sich freundschaftlich zugewandtes Team zwischen den Geschlechtern. Frauen bleiben eher unter sich und auch Männerfreundschaften sind stärker als bei uns im Westen. Durch die intakten Großfamilien herrscht auch im Haus eine große soziale Kontrolle. Es scheint mir manchmal sogar so, als würden die starken Beschneidungen der Freiheit hier durch die vielen Regeln und Grenzen gerade mehr Freiheit und Unabhängigkeit ermöglichen, da weniger Erwartungen der romantischen Liebe aneinander geknüpft werden.
Das ist eine Seite des Wahrnehmbaren. Auf der anderen Seite verändern sich die großen Städte in Indien rasant und Frauen studieren und emanzipieren sich. Anstelle von Großfamilie kommt Kinderbetreuung von außen, Individualität und Erwartungen an ein Versprechen von Glanz und Glamour halten Einzug. Das von den Briten eingeführte Universitätssystem, für das sich jeder gute Demokrat einsetzt, zerstört ganz klar das traditionelle System der "gurushisha parampara" = „Zu Füßen des Gurus sitzen“ heisst, von Kindheit an von Spezialisten der eigenen Familie ausgebildet zu werden. Gurus, also Lehrer, die wirklich ein Interesse daran haben, dass jemand etwas lernt, nicht so sehr des Individuellen wegen, sondern um eben die Tradition weiterzuführen. Heute sieht man im Vergleich zu noch vor nur 10 Jahren weniger gute traditionelle Künstler. Traditionelle Musik und Tanz, Malerei, Kochkunst und korrekte Ausführung von traditioneller Heilkunde und Handwerk werden immer weniger, dafür sind junge Frauen und Männer nun Spezialisten in Macotronics und allopathischer Medizin. Bei Coffe Day, einer Kette wie Starbucks, kann man einen Rupie extra zahlen und somit die Schulbildung eines Kindes unterstützen. Sein gutes Gewissen kann man sich jetzt auch in Indien an der glamourösen Kaffeebude mit seinem karamellisierten Latte Machiato decafe kaufen.
Und das klingt ja auch erstmal super, nieder mit dem Kastensystem und Schulbildung für alle. Schulbücher gab es im traditionellen Indien nicht. Auch nicht der Gedanke, jemand wäre individuell talentiert für irgend etwas. Jemand wird in das hineingeboren, was genau diese Seele im Zuge ihrer Entwicklung gerade durchleben muss, und wenn das eine Musikerfamilie war, musste eben von morgens bis abends Musik geübt werden, und wenn der Vater Schuhputzer oder Rikshawfahrer war, wurde eben dieses Handwerk gelernt. Jede Kaste war wichtig für den Erhalt einer Gesellschaft. Heute kann fast keiner mehr einen Schuh reparieren, und das wird auch weniger wert geschätzt, Bollywood verdrängt hindustanische klassische Musik, und es kommt ein neuer Gedanke von Individualität ins indische Bewusstsein. „Ich bin mir das wert“, ein gutes reiches Leben zu haben, ich will die gleichen Chancen wie alle anderen. Aber um was zu tun? Als Frau statt Kinder aufziehen, was weniger wertvoll wird, im Büro sitzen und politisch mitreden. Gesellschaftlich gesehen ist das Kastenwesen vielleicht eine Katastrophe. Ausweg aus dieser Katastrophe bieten wir im Westen nur unzulänglich.
Ich erkenne mehr und mehr, dass es uns nicht zusteht, Fremdes, was wir nur in Ansätzen verstehen können, zu bewerten oder zu verurteilen.
All das möchte ich Euch gerne zeigen und unsere Reise wird viel Spielraum für Diskussionen und Gedankenaustausch ermöglichen. Wo letztendlich die Wahrheit liegt, werden wir schwerlich in dieser Welt von Konfusion herausfinden. Vielleicht macht das auch gar nichts und alles muss genau so sein wie es erlebt wird. Wir befinden uns in unserem selbst kreierten Netz von Karma und es dauert solange es dauert.